In meinen Träumen

Amelie Rick
19. November 2021

Heute ist der große Tag endlich gekommen: Ich sitze hier. An meinem Klavier. Wie oft habe ich mir in den letzten Wochen vorgenommen, hier herzukommen und zu spielen? Ich weiß es nicht. Und will auch gar nicht darüber nachdenken. Denn jetzt bin ich bereit: Ich drücke die ersten unbeholfenen Akkorde. Langsam beginne ich, ein wenig vor mich hinzusummen. Einige To-Do’s, die eigentlich dringend erledigt werden müssen, klopfen kurz an meinen Gedanken an. Ich summe sie erfolgreich weg. Nicht jetzt und nicht hier! Vorsichtig taste ich mich melodisch weiter und höre meinem Herzen dabei zu, wie es die ersten Melodien in Worte fasst und über meine Lippen bringt. Immer mutiger lasse ich ihm freien Lauf und stimme mit mehr Leidenschaft in das mit ein, was in mir freigesungen werden muss. Die Dynamik nimmt von Minute zu Minute mehr zu. Mein Herz schwingt sich empor und lässt sich frei. Die Welt um mich herum verschwindet auf wundersame Weise immer mehr aus meiner Wahrnehmung, bis ich schließlich ganz versunken bin in meinem Sein hier am Klavier. Was für ein herrlicher Moment. Was für kostbare Augenblicke, die ich hier genießen darf:

Melodien und Worte vereinen sich mit meinem innersten Sehnen, meinem Verlangen nach Ausdruck, meiner Hingabe an den Einen, der mein Leben ist. Ich spüre Seinen Blick auf mir. Seine Freude über mein Liebenslied an Ihn, Seine Freude über mich, die ich hier so hingegeben vor Ihm in meiner Kunst aufgehe. Ich fühle, dass ich genau hierfür geschaffen bin. Dass mein Gott mich genau so wollte: so leidenschaftlich, so träumend, so vertieft in Ihn, so hingegeben an den Genuss der Symbiose von Wort und Klang. So lebendig und erkannt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. So lange ich kann, bleibe ich hier und tanke mich selbst in Ihm. Die Zeit vergeht wie im Flug, bis sie sich wieder bemerkbar und mich darauf aufmerksam macht, dass ich meinen Sohn von der Kita abholen muss.

Leichten Herzens notiere ich die letzten Liedideen und mache mich auf den Weg zurück in meinen Alltag. Doch irgendwas ist anders als die letzten Wochen: Meine Zeit am Klavier hat etwas in mir wachgeküsst, was mich die nächsten Tage noch begleiten soll. Sie hat mich wachgeküsst. Mich an die erinnert, die ich bin, und mich an den erinnert, der mich genau so geschaffen hat. „Ich komme wieder“, flüstere ich meinem Klavier zu und verlasse den Raum…

Foto: Canva