Freitag, 06.06.2025, 11:35 Uhr, Berlin Hauptbahnhof. Das erste Mal seit 9 Jahren fahre ich für 3 Tage allein weg. Mit der Deutschen Bahn Richtung Augsburg zum Eden Fest 2025. Schon vor zwei Jahren hatte ich mir gewünscht, dort dabei sein zu können. Damals sahen mein inneres und mein äußeres Leben jedoch noch nicht so aus, als dass ich mir das kräftetechnisch zugetraut hätte. Doch nun stehe ich hier. Mit einem Koffer voll schicker Klamotten in der Hand und einem Herz voller Erwartung auf eine einzigartige Mischung aus Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Psychologie und vielem mehr in der Brust. Das Ziel all dieser verschiedenen vertretenen Disziplinen: Das Morgen mit Sinn, Verbundenheit und Schönheit zu füllen. Um die Zukunft auch zukunftsfähig zu machen. Das klingt doch gut. Das klingt nach Leben. Nach Leben, das wahrlich lebt. Und das kann ich gut gebrauchen.
Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich auch ein wenig Bedenken: Wird mir das nicht doch zu viel? Werde ich schlafen können bei all der Aufregung, die mich in den kommenden Tagen umgeben wird? Werde ich Gesprächspartner finden? Schließlich bin ich doch allein unterwegs. Wird es vor Ort so sein, wie ich es mir erhoffe? Werde ich da meinen Platz finden oder mich völlig allein mitten unter Menschen fühlen, die alle jemanden zum Reden haben? Small-Talk ist gar nicht mein Ding. Zu viele Menschen auf einem Haufen auch nicht. Oh je… Je weiter meine Gedanken in diese Richtung zu kreisen beginnen, desto enger wird es in mir. Die mir über die letzten Jahre so wohl vertraut gewordene Angst ist drauf und dran, mir wieder einmal die Kehle zuzuschnüren.
Beherzt greife ich innerlich nach der Schlinge, die sich um mich zu legen droht, und reiße sie mir gedanklich vom Hals. „Nein, Amelie! Nein!“, spricht mir mein Inneres vehement zu. „Die letzten Jahre waren hart, ja! Du hattest eine posttraumatische Belastungsstörung mit schweren Schlafproblemen und einer daraus folgenden postpartalen Depression. Du bist fast gestorben, nachdem Du allergisch auf ein Medikament reagiert hast, und Du warst von alledem so erschöpft, dass Du 9 Jahre lang dachtest, Dich nie wieder davon erholen zu können. Doch schau Dich an, was diese Zeit mit Dir gemacht hat: Deine Krise wurde Dir zum größten Schatz. Weil Du am Boden Deines Seins den Mut fandest, Dich zu Dir und Deiner in Dir wohnenden Kreativität zu stellen. Sie wurde Dir zum Schatz, weil Du lernen durftest, dass die Liebe wirklich das Größte ist (Sonst hättest Du heute nicht diese tiefe Bindung zu Deinem Sohn, um die Du wirklich wie eine Löwin gekämpft hast.). Und weil Du erleben durftest, was Dir Gott bedeutet, als Du innerlich völlig zerstört feststellen musstest, dass Er Dich gar nicht braucht. Du Ihn dafür aber umso mehr. Ich zähle Dir hier jetzt nicht alles auf, aber ich rücke Dir energisch den Kopf zurecht: Amelie, Du bist stärker als Du denkst. Nicht weil Du es bist, die immer stark sein muss. Nein, sondern weil Du lernen durftest, dass Deine Schwachheit der tiefste und schönste Ort ist, an dem sich Gott Dir zeigen kann. Ich kann Dich verstehen: Die letzten Jahre waren nicht einfach. Und ich kann auch verstehen, dass Du das Zutrauen ins Leben erst einmal wieder lernen musst. Aber genau das hier ist Deine Einladung, die Du dafür brauchst: Du wirst jetzt zum Eden Fest fahren und es genießen. Du wirst eine Zeit voller Inspiration unter Gleichgesinnten haben und Du wirst gestärkt wiederkommen.“
Puh, das sind mal klare Worte. Mit gestrafften Schultern und einer nun neuen Portion Hoffnung in meinem viel zu schweren Rucksack betrete ich mein Zugabteil. Dann mal auf Richtung Augsburg und auf Richtung Zutrauen. Nach 5 Stunden Fahrt komme ich endlich an und werde herzlich von meiner Schwester empfangen, bei der ich die nächsten Tage schlafen werde. Gemeinsam fahren wir zu ihr nach Hause, essen etwas, quatschen und machen uns einen Wein auf. Meine erste Nacht verläuft erstaunlich gut. Ich schlafe viel besser als erwartet. Trotz Regen gelangen wir am nächsten Morgen schnell und sicher zum Eden Fest. Und dann? Dann betreten wir das Veranstaltungsgebäude, in dem wir uns gleich voneinander verabschieden. Meine Schwester macht sich auf Richtung Backstage-Bereich, um im Hintergrund mitzuarbeiten. Jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Wie von selbst bewege ich mich durch die große Eingangshalle und sauge alles in mich auf, was ich sehen und hören kann: Dort oben auf der Empore ist der Shop mit ganz vielen inspirierenden Artikeln, die alle die gleiche Sprache sprechen: Gestaltungsmut. Hier unten steht ein DJ an der Seite und sorgt für zwitschernde Vogelgeräusche, die einem das Gefühl geben, mitten im Wald zu sein. Und hier und da stehen große Leinwände, auf denen die Werte der Eden Culture stehen, die wir hier gemeinsam verinnerlichen wollen. Langsam und bedacht lese ich mir alle Stellwände durch und lasse mein Inneres, schlendernd von sorglosen Vogelmelodien begleitet, ankommen. Während sich Wahrheit durch meine lesenden Augen auf mein noch unsicheres Herz schreibt. Und mit jeder Minute mehr blühe ich innerlich auf. Ja, hier kann ich mich wohl fühlen. Allein oder in der Gemeinschaft. Hier bin ich richtig. Ich spüre es genau. Ich weiß es!
10 Uhr. Das Eden Fest beginnt. Ich sitze etwas abseits in der ungefähr 6. Reihe und höre den rund 900 Menschen zu, die alle gemeinsam den Countdown runterzählen. Ich spüre ganz genau, was in diesen Stimmen mitschwingt: bahnbrechende Vorfreude auf die kommenden Tage. Tief in mir resoniert etwas, das ich in den letzten Jahren nur ab und zu als seltenen Gast in mir begrüßen durfte: eben genau diese bahnbrechende Vorfreude und eine Lebenslust, die mich hier ganz automatisch anzustecken scheint. Wow! Und es ging noch nicht mal richtig los…
Was soll ich sagen? Die kommenden drei Tage wurde mir zu einer Spielwiese meines ganzen Seins auf all meinen verschiedenen Ebenen. Gebannt lauschte ich den verschiedenen Vorträgen aus den unterschiedlichsten Gebieten. Und egal, welches Gebiet sich mir vorstellte: Ich entdeckte in allen Themen Überschneidungen, Resonanzräume, Denkanstöße und immer wieder den gleichen Dreiklang bestehend aus Sinn, Verbundenheit und Schönheit. Aus ihnen quoll mir das Leben regelrecht entgegen. Und zu meinem eigenen Erstaunen konnte ich mich diesem Leben vorbehaltlos hingeben und mich neu davon füllen, ermutigen und inspirieren lassen. Immer wieder zwischendurch gab es Kunst zum Sehen, Hören und Anfassen: Malerei, Musik, Literatur, Tanz, Theater. Alle Sinne wurden angesprochen und mit einbezogen und es wurde mir neu bewusst, wie wichtig es war, all diesen Facetten des Lebens Raum zu geben, wenn man dem Puls des Lebens nahekommen wollte.
Mein seelischer und geistlicher Puls stieg in diesen Tagen in ungeahnte Höhen hinauf. Und sogar die Gespräche mit fremden Leuten zu den Essenszeiten waren mir ein Leichtes. Nicht nur ein Mal dachte ich nach dem letzten Happen und letzten Schluck: „Ich glaube, ich habe da eine neue Verbindung zu einem Menschen gefunden.“ Das kannte ich gar nicht mehr von mir: diese Offenheit und Begeisterung aus alten, weit zurückliegenden Jahren. Diese Lebenslust und diese Freiheit, die ich in mir zu spüren begann. Und so führte eines zum anderen: Ein wertschätzender Blick zu einem Gespräch. Riesige Luftballons, die in den Raum geworfen wurden, zu einem großen Bällebad, in dem sich Erwachsene dem Kindsein hingaben und das Leben hin- und herwarfen. Tiefsinnige Worte zu kleinen Tränen, die mir die Wange entlangliefen. Lustige Anekdoten zu Lachanfällen, mit denen wir einander ansteckten. Und immer wieder Musik, die es einem schier unmöglich machte, brav auf dem Stuhl sitzen zu bleiben.
Und so sah ich mir selbst dabei zu, wie ich regelmäßig aufstand, um mich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Ich spürte mir nach, als sich eine kleine nasse Straße den Weg aus meinen Augenwinkeln bahnte, während die Söhne Mannheims „Und wenn ein Lied meine Lippen verlässt“ sangen. Ich stellte mich still an die Seite des Raumes, hörte alle berührt mitsingen und genoss es, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und noch viel mehr: Es endlich wieder spüren und genießen zu können, am Leben zu sein. So tief, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Ich gebe es gerne zu: Ich nahm alles mit. So viel, wie ich fassen konnte. Doch auch eine positive Druckbetankung braucht Pausen, um nicht zu platzen. Und so fuhr ich bereits ein wenig früher nach Berlin zurück, um mir ein wenig Zeit zum Nachhallen zu lassen. Meine letzte Erinnerung jedoch übertraf alles: Ein Duo namens Stiehler/Lucaciu spielte sich mit voller Lust und Freude auf dem Keyboard und dem Saxophon das Leben aus dem Leibe. Irgendwann ging die Lust in Tiefsinn über und endete in meinem persönlichen Höhepunkt. Einem Lied, in dem ein Mensch beschrieben wird, dem es genau so ging wie mir. Ein Mensch, der verlernt hatte zu fliegen, den jedoch die lockende Melodie des Lebens so lange begleitete, bis sie unter einem besonderen Stern stehen blieb, der ihm zuflüsterte: „Fliegen kann man nicht verlernen. Komm, mach Dich auf zu neuen, weiten Flügen. Du bist dafür geschaffen.“ Mein Herz schwang sich in das Gefühl des Erkanntseins und der tiefen Ermutigung hinein, die ich in diesem Moment empfand: Ja, das war ich. Und genau das hier war mein Stern-Moment. Mein Zeichen des Himmels: „Du kannst Fliegen nicht verlernen. Du kannst Leben nicht verlernen. Weil es in Dir angelegt ist.“
Seit rund zwei Wochen bin ich nun wieder zu Hause und dankbar für diese 3 wundervollen Tage. Zugegeben waren sie auch sehr voll und körperlich und geistig herausfordernd. Und zugegeben sehe ich sie vielleicht gerade etwas verklärt. Doch das ist mir egal. Denn diese drei Tage waren ein Geschenk Gottes an mich. Eine einzige Mutmach-Reise, die mit in das einstimmte, was ich bei meiner Abfahrt aus Berlin noch zu mir selbst gesagte hatte: „Du kannst dem Leben wieder vertrauen. Schau einfach nach vorne. Es liegt Neues vor Dir und wartet auf Deine Umarmung. Denn alles hat seine Zeit. Und bei Dir bricht gerade eine Zeitenwende an…“
Prediger 3, 1-8 (Bibel):
„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“
Hintergrundbild: Canva