Alles hat Seine Zeit

Amelie Rick
14. Oktober 2024

Jetzt sitze ich im Auto. Der Tag des Termins ist gekommen. Nur noch wenige Minuten und ich bin da. Meine Gedanken drehen sich wie in einem Karussell. Ich kriege sie kaum zu fassen. Dafür umklammere ich das Lenkrad umso fester. „Herr!“, betet mein Inneres stumm, „Bitte hilf mir heute. Ich kann das Projekt, das mir angeboten wurde, nicht annehmen. Es würde mir zwar finanziell wirklich helfen, aber ich merke, dass ich mir daran die Finger verbrennen würde. Bitte hilf mir, das Projekt abzulehnen und bei mir zu bleiben. Ich weiß, dass die potenzielle Kundin viel Hoffnung in mich setzt. Aber ich bin für sie nicht die Richtige. Hilf mir! Ich tue mich schwer damit, Hoffnungen zu enttäuschen. Aber ich muss es tun. Bitte gib mir die richtigen Worte.“

Mein Navigationsgerät zeigt mir an, dass ich am Ziel angekommen bin. Warum nur macht es mich so fertig, dieses Projekt abzulehnen? Ich tue mich doch schon seit längerem nicht mehr so schwer mit Absagen. Nun denn: durchatmen, Pflaster abziehen, nach Hause fahren. Gleich ist es geschafft. Meine Beine bewegen sich wie in Zeitlupe zum Haus der Kundin. Vorsichtig drücke ich den Klingelknopf. Und werde freudestrahlend empfangen, sogar herzlich umarmt. Gefragt, ob ich einen Tee möchte. Und während des Wasseraufsetzens wird mir überschwänglich erzählt, wie froh sie sei, dass ich endlich da bin.  „Oh je“, denke ich, „das wird gleich ein herber Schlag für sie.“ Mit den warmen Tassen in der Hand gehen wir Richtung Büro. Dort, wo ich ihr nun unterbreiten werde, dass ich das Projekt nicht machen kann. Obwohl es ihr so wichtig ist. Obwohl sie mich als ein Geschenk des Himmels genau zur richtigen Zeit ansieht. Sie erzählt weiter. Es sprudelt förmlich aus ihr heraus. Und übertritt Stück für Stück meine Ufer. Innerlich sehe ich meine Felle davonschwimmen. Ich bekomme fast schon Panik. Weil ich gar nicht weiß, wie ich sie unterbrechen kann. Weil so viel Vorfreude und Vertrauen in ihren Augen liegen. Innerlich bete ich ununterbrochen: „Vater, hilf mir!“

Nach einem kurzen Durchatmen hake ich dann endlich ein. Stelle Fragen, um nochmal auf Nummer sicher zu gehen, dass mich mein Gefühl nicht täuscht. Ihre Antworten lassen meine Alarmsirenen laut aufjaulen. Nun bin ich mir umso sicherer, dass ich absagen muss. Ok, dann mal los! Mit viel Gefühl und warmen Worten nehme ich sie in meine Situation mit hinein und erkläre ihr mit Engelszungen, warum ich nicht glaube, dass ich die Richtige für sie bin. Ihre Augen weiten sich. Unverständnis macht sich in ihrem Blick breit. Und doch sehe ich ihr an, dass sie versucht, zu verstehen. Ich erkläre ihr meine Gründe, mache mich damit ehrlich und verletzlich. Doch ich weiß, dass das der einzige Weg ist, hier wieder rauszukommen, ohne Scherben zu hinterlassen. Denn das möchte ich nicht.

Und dann passiert das Unvorstellbare: Sie versteht. Und vertraut sich dadurch auch mir mit ihrer ganzen Verletzlichkeit an. Plötzlich erkenne ich, dass ihre konkreten Vorstellungen zu ihrem Projekt gar nicht so konkret sind und dass sie eigentlich etwas ganz anderes braucht. Etwas Tieferes, etwas Heilsameres, etwas Kostbares, das als Grundlage zum Weitergehen enorm wichtig für sie sein wird. Ich spiegele ihr meine Wahrnehmung und stoße auf ein offenes Herz, das aus dem Innersten heraus regelrecht „Ja!“ zu schreien scheint. „Ja, so geht es mir. Ja, das bräuchte ich eigentlich! Danke, dass Du mir das gerade zeigst.“ In ihren Augen schimmern die Tränen, während ich ihr von dem Weg erzähle, den ich ihr empfehlen würde und der sich wie von selbst vor meinem inneren Auge entfaltet. Sie greift zum Stift, schreibt alles mit, atmet dabei regelrecht auf und verhält sich so ganz anders als am Anfang unseres Treffens. So frei und so gesehen.

Doch auch in mir ändert sich etwas: Während ich ihr Empfehlungen ausspreche, merke ich, dass ich nun bei diesem Plan B als Weggefährtin durchaus geeignet wäre. Zu völlig anderen Bedingungen als Plan A. Zu Konditionen, die wirklich zu ihr passen. Und Konditionen, die ich nicht nur erfüllen kann, sondern zu denen ich mich gerade hier in diesem Moment gerufen fühle. Von dieser leisen inneren Stimme selbst, die ich bereits so gut kennenlernen durfte. „Komm, folge diesem Weg. Da ist Freude, Leichtigkeit, Erfüllung und Berufung. Und da sind Grenzen, die Dir den Schutz und die Freiheit geben, die Du brauchst. Hier kannst Du zusagen. Ohne Bedenken. Sogar ganz im Gegenteil: mit viel Grund und Sicherheit“, flüstert sie mir jetzt leise zu.

Also wage ich mich einen Schritt vor und unterbreite ihr, dass ich mir für diesen Plan B, der ihr nun so viel besser erscheint als Plan A, gut vorstellen könnte, sie zu unterstützen. Mein Vorschlag trifft auf Dankbarkeit und auf eine unsichtbare Umarmung, die sich durch die veränderte Atmosphäre im Raum um mich legt. Plötzlich fühle ich mich sicher und so klar geleitet, dass es mich selbst erstaunt. Und wie von einem auf den anderen Moment lösen sich all die Enge und Schwere in mir auf. Weite und Vorfreude machen sich breit und eröffnen mir, warum ich zu Beginn des Termins so angespannt gewesen war: Etwas in mir schien von Anfang an geahnt zu haben, dass dieser Termin nicht nur für meine Kundin, sondern auch für mich ein wichtiger sein würde.

Denn er sollte ihr und mir zeigen, dass unser Vater im Himmel ganz andere Pläne hatte. Pläne, die nun für beide von uns zu einem großen Segen werden dürfen. Pläne, die Seiner Zeit und Seinem Willen unterstellt sind. Wie noch nie zuvor erkannte mein Herz in diesem Moment, wie gnädig mein himmlischer Vater ist und wie liebevoll und klar Er mich führt, wenn ich mich vollkommen von Ihm abhängig mache. Denn in genau dieser Abhängigkeit konnte Er mir mit einer Tasse in der Hand und einem Herz in der Hose in diesem Büro meiner Kundin ein Gnadengeschenk machen, das Ihm sonst so nicht möglich gewesen wäre. In dem Maße, in dem ich alles in Seine Hand abgab und verzweifelt darauf vertraute, dass Er es gut mit mir machen würde, schenkte Er mir Seine treue, gnädige Leitung. Wie ein Puzzlestück rastete diese neue Erfahrung so tief in einen Teil meines Herzes hinein, dass sie nun nicht mehr dort wegzudenken ist. Weil sie sich mit meinem Innersten verbunden hat. Diese Gewissheit: Alles hat Seine Zeit! Alles hat SEINE Zeit!

Hintergrundbild: Canva